Raus aus der Komfortzone

Nachricht 08. April 2019

Interview mit Michael Hinrichs

Mit der Flotte unterwegs ist Diakon und Kreisjugendwart Michael Hinrichs mit vielen Kolleginnen und Kollegen, Ehrenamtlichen und mehreren Hundert Konfirmanden und Konfirmandinnen. Sein Ziel: den Glauben ins Gespräch bringen und erleben, Themen der Jugendlichen aufnehmen und „neue Welten“ erschließen. (Stichworte Konfirmandenarbeit, Jugendarbeit, Flotte, Ehrenamt)

epd-Gespräch: Dieter Sell; 04.04.2019

Bremerhaven/Lelystad (epd). Konfirmanden-Unterricht auf schwankendem Boden: Seit 2005 fährt der evangelische Kirchenkreis Wesermünde bei Bremerhaven jeweils in den Osterferien eine Woche mit Jugendlichen von Lelystad aus über das holländische Ijsselmeer - in diesem Jahr auf 21 Segelschiffen mit 530 Leuten. An diesem Freitag geht es mit Bussen nach Holland, tags darauf legen die Schiffe im Hafen von Lelystad ab. Die Tour führe die Jugendlichen "raus aus der Komfortzone, rein in die reale Welt", sagte Mitorganisator und Kreisjugenddiakon Michael Hinrichs dem Evangelischen Pressedienst (epd).

epd: Herr Hinrichs, wie ist die Flotte entstanden und seit wann sind Sie auf dem Ijsselmeer unterwegs?

Michael Hinrichs: Wir sind schon früher mit Ehrenamtlichen in Holland auf Motorbooten über Kanäle gefahren. Auf Spiekeroog kam dann bei einer Tagung mit dem Blick über das Wasser die Idee auf, Jugend- und Konfirmandenarbeit auf einem Schiffstörn zu verbinden. Die erste Flotte lief 2005 aus, damals noch mit sechs Schiffen und 150 Menschen, darunter 15 Teamern. In diesem Jahr sind es auf 21 Schiffen 530 Menschen, davon 428 Konfirmanden und 102 Mitarbeitende.

epd: Was passiert da an Bord?

Hinrichs: Wir wollen Glauben ins Gespräch bringen. Wir wollen ihn aber insbesondere miteinander erleben, indem wir auf den Schiffen gemeinsam Andachten organisieren, indem wir in einer großen Gemeinde Gottesdienst feiern, den Abend mit einem Tagesschluss und einem Segen beenden. Und wir wollen Themen ins Gespräch bringen, die etwas mit dem Leben der Jugendlichen zu tun haben.

epd: Zum Beispiel?

Hinrichs: Das Motto der Woche ist "Auf zu neuen Welten". Letztendlich geht es um die Frage: Woran orientiere ich mich, was bedeutet mir Glaube? Wir im Organisationsteam denken, dass sich in dieser Hinsicht etwas geändert hat. Konfirmanden kommen heute anders als früher oft erstmals mit religiösen Themen in Kontakt - verbunden mit einer Reihe von Fragen: Wer bin ich? Wer ist mein Gegenüber, wer ist mein Nächster? Was braucht es, um eine tragfähige zwischenmenschliche Beziehung aufzubauen? Wer sind wir als Gruppe? Wer bin ich als Mädchen und Junge? Was macht eine christliche Gemeinschaft aus? Wofür müssen wir uns einsetzen als Christen in dieser Welt? Alles Fragen, die an Bord eine Rolle spielen.

epd: Die Schiffe also als Laboratorien christlicher Gemeinschaft?

Hinrichs: Das kann man so sehen - und das hat natürlich etwas mit der Situation an Bord zu tun. Es fängt damit an, dass sich so ein Segler nur gemeinsam in Fahrt bringen lässt. Auch bei der Frage, an welchen Bojen wir uns im Leben orientieren, kann die biblische Botschaft Hinweise geben. Was sind Leuchttürme, starke biblische Weisheiten, die durchs Leben tragen können? Wo taucht im Leben Sturm auf - und wie kann man den wieder besänftigen? Wir haben an Bord viele Möglichkeiten, christliche Glaubensüberzeugungen ins Gespräch zu bringen.

epd: Wo liegen denn ganz praktisch die täglichen Herausforderungen im Zusammenleben an Bord?

Hinrichs: Für die Jugendlichen, die Ehrenamtlichen und die Teilnehmer, bedeutet das Bordleben mit begrenztem Platz: raus aus der Komfortzone, weg vom Bildschirm, rein in die reale Welt. Und noch mal anders als in der Schulklasse geht es darum, sich in einer Gruppe neu zu entdecken und miteinander zu leben, damit die Woche gut läuft.

epd: Gibt es Konflikte?

Hinrichs: Klar, die Leute sind sich ja nicht immer alle grün. Dann geht es darum, wie das zu lösen ist: Streit unter Freunden beispielsweise, die sich auf dem Schiff neu begegnen. Man kann sich an Bord ja nicht verstecken mit seiner Persönlichkeit, du kannst dir nicht aus dem Weg gehen. Und es geht um ganz praktische Fragen: Wer macht hier viel, wer verpieselt sich häufiger? Wer spielt in der Gruppe die erste Geige, wer die zweite? Und gibt es da Konkurrenzkämpfe? Das Spannende daran ist, dass die Jugendlichen in der Schule teilweise seit Jahren zusammen sind, mit festen Rollen. Wir mischen die Gruppen aus verschiedenen Orten, so dass die jungen Leute, die ohnehin auf der Suche sind, die Chance haben, sich noch mal anders zu präsentieren, andere Wesenzüge zur Geltung kommen zu lassen. Raus aus der Schublade - das ist für einige Teilnehmer eine persönliche Aufbruchzeit. Die merken: Ich muss nicht so sein, wie ich bisher gewesen bin. Ich hab noch ganz andere Möglichkeiten.

epd: Hat die Flotte Nachahmer gefunden?

Hinrichs: Die Idee hat tatsächlich Kreise gezogen. Zwei Jahre später haben die Stader die Flotte aufgegriffen und sind mittlerweile mit mehr als 200 Jugendlichen aus der ganzen Stadt unterwegs. Dann gibt es Gruppen aus der Bremischen Evangelischen Kirche, aus der Region Burgdorf bei Hannover, aus Braunschweig und jetzt zuletzt aus Bremerhaven.

epd: Warum hat sich das so multipliziert, was ist das Erfolgsrezept?

Hinrichs: Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass ein verschulter Konfirmanden-Unterricht der Vergangenheit angehört. Wir müssen im Leben miteinander glauben lernen. Es geht nicht darum, Inhalte in die Köpfe zu bekommen - die dürfen natürlich auch eine Rolle spielen. Wir müssen miteinander leben, feiern, Erlebnisse teilen, die überhaupt zu einer christlichen Gemeinschaft führen - in der der Spaß nicht zu kurz kommt, in der aber auch der eine Verantwortung für den anderen übernimmt.

Wir haben mit der Flotte eine Unterrichtsform etabliert, die die Lebenswelt der Jugendlichen aufnimmt. Und sie ist gleichzeitig der Nährboden für einen wachsenden christlichen Glauben. Bei uns jedenfalls ist das Modell erfolgreich. Für den Konfirmanden-Unterricht melden sich regelmäßig mehr Jugendliche an, als angeschrieben werden. Die Anmeldequoten sind konstant hoch - auch wenn die Zahl der Flottenteilnehmer in diesem Jahr aus demografischen Gründen zurückgegangen ist.